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1990: Wilder Osten! Rechtsfreier Raum?

Eine dicht gedrängte Menge bei einer Demonstration, die Mehrzahl der Demonstranten trägt Uniform. Die Menschen auf dem Bild halten fünf Transparente in die Höhe, eine der Aufschriften ist: »Betrogen, Verraten Mißbraucht Auch WIR sind das VOLK«.
Volkspolizisten bekunden auf einer Demonstration in Leipzig ihren Willen zur Zusammenarbeit mit allen demokratischen Kräften und zum Abbau des Misstrauens der Bevölkerung. (24. Januar 1990)  © Bundesarchiv, Bild 183-1990-0124-030 / Fotograf: Friedrich Gahlbeck

Im März sichert die Volkspolizei die ersten freien Wahlen, im Juli folgt der Schutz der Währungsunion. Doch entsteht im Schatten der gesellschaftlichen Neuordnung in der Noch-DDR ein Machtvakuum. Sprunghaft nimmt die Kriminalität zu. 

Die Polizei sucht noch ihre Rolle bei der demokratischen Erneuerung.

Niemand wusste, was wird aus ihm ... wir waren alle irgendwo Kinder der DDR, waren alle in der Partei und wussten nicht, wie reagiert der Westen.

Andreas Arnold, Leitender Polizeidirektor a. D. (2018)*

Also das muss man sich schon mal deutlich machen, dass es für jeden einzelnen Volkspolizisten wie eine existenzielle Krise war. … Bleibt er überhaupt noch oder war er eventuell politisch zu nah.

Heinz Eggert, Sächsischer Staatsminister des Innern a. D. (2018)*
Drei Volkspolizisten in Uniform zertrümmern Abhörtechnik des Ministeriums für Staatssicherheit. Zwei der Polizisten schlagen gerade mit je einem Hammer auf die Einzelteile am Boden.
Im Innenhof der Bereitschaft der Deutschen Volkspolizei (heute Sächsisches Staatsministerium der Finanzen) zerstören Volkspolizisten sichergestellte Abhörtechnik des Ministeriums für Staatssicherheit. (16. März 1990)  © Bundesarchiv, Bild 183-1990-0316-026 / Fotograf: Matthias Hiekel

Personell und technisch dünn ausgestattet, stürzt die Polizei in eine Krise. Ihr das notwendige Selbstbewusstsein zurückzugeben ist schwierig – auch weil sie in Teilen der Bevölkerung ihre Autorität und Legitimität eingebüßt hat. Sie gilt als der alte »Büttel der SED«.

Trotz Verunsicherung versucht die Mehrheit der Polizistinnen und Polizisten, die neuen Aufgaben zu meistern. Im Sinne des Befehls Nr. 1/90 des Innenministeriums, der auf »Verantwortung gegenüber dem Volk« und Transparenz setzt, treten umfangreiche polizeiinterne Veränderungen in Kraft: die Aufhebung der militärischen Vorschriften, die Auflösung der Politischen Abteilungen … Es kommt erstmals zu Demonstrationen von Polizeiangehörigen, eine Gewerkschaft wird gegründet, das Polizeigesetz von 1968 schrittweise abgelöst.

Sechs Polizisten stehen vor dem Strafvollzug Bautzen. Sie tragen Wintermützen und blicken auf die vergitterten Fenster der Vollzugseinrichtung. Gerade noch zu erkennen ist, dass sich hinter den Fenstern in der dritten Etage Menschen befinden.
Im Verlauf des Herbstes 1989 wurden zahlreiche Menschen, die aus politischen Gründen inhaftiert worden waren, aus den Gefängnissen entlassen. Nachdem ab Dezember auch Häftlinge mit geringen Freiheitsstrafen eine Amnestie erhielten, forderten im Januar 1990 300 Mörder, Sexualstraftäter und Räuber im Strafvollzug Bautzen ihre Freilassung und drohten andernfalls mit Ausbruch. (23. Januar 1990)  © Bundesarchiv, Bild 183-1990-0123-049 / Ulrich Häßler

Tatsächlich dauert es aber ein gutes Jahr, bis mit der Deutschen Einheit Schritt für Schritt neue Grundlagen des gesamten öffentlichen Lebens umgesetzt werden: neue Gesetze, neue Beamte und neue Strukturen. Mit der Neugründung des Freistaates Sachsen beginnt der Aufbau der sächsischen Polizei.

 

Historische Belege zum Weiterlesen

»Nicht alles Neue ist gänzlich neu; nicht alles Alte ist veraltet. Erneuerung bedeutet nicht, alles was in fünfundvierzig Jahren gewachsen ist über Bord zu werfen. Es ist an der Zeit, Arbeitsweisen der Polizei westlicher Länder gründlich auszuwerten und vor allem der Anwendung von Wissenschaft und Technik im Polizeidienst mehr Augenmerk zu schenken.«

Aus: Das Ministerium für Innere Angelegenheiten in der gesellschaftlichen Erneuerung: Bestandsaufnahme und Schlußfolgerungen, Berlin 1990

»Im ersten Überschwange der neugewonnen Freiheit waren (und sind) viele Bürger nicht mehr bereit, Gebote und Verbote der Polizei zu akzeptieren. Unsere Polizisten hatten nicht gelernt, mit dem Bürger auch in kritischen Situationen angemessen umzugehen. Polizeiarbeit transparent, nachvollziehbar und damit letztlich auch akzeptierbar zu machen, war im DDR-System nicht für notwendig angesehen worden und war deshalb auch nicht im polizeilichen Ausbildungsprogramm vorgesehen.«

Antwort des Staatsministeriums des Inneren zur großen Anfrage der SPD-Fraktion, Drucksache 1/101 (17. Januar 1991)

Auszug aus dem historischen Dokument: »Es ist alles zu tun, damit für die Bürger unseres Landes jederzeit spürbar ist, daß die Deutsche Volkspolizei ihrer Verantwortung für öffentliche Ordnung und Sicherheit gerecht wird, …«
Befehl Nr. 1/90 des Stellvertreters (Generalmajor Winderlich) des Ministers für Innere Angelegenheiten und Chefs der Deutschen Volkspolizei vom 15. Februar 1990.  © Polizeihistorische Sammlung Sachsen

»Befehl Nr. 1/90 des Stellvertreters des Ministers für Innere Angelegenheiten und Chefs der Deutschen Volkspolizei über die Aufgaben der Deutschen Volkspolizei zur Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit bei der demokratischen Erneuerung in der DDR vom 15. Februar 1990: Zur Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit als wichtige Voraussetzungen und Bedingungen der demokratischen Erneuerung in der DDR

BEFEHLE ICH:
1. Es ist alles zu tun, damit für die Bürger unseres Landes jederzeit spürbar ist, daß die Deutsche Volkspolizei ihrer Verantwortung für öffentliche Ordnung und Sicherheit gerecht wird, Verfassungstreue und Einhaltung von Recht und Gesetz oberste Maxime ihres Handelns sind.

Das erfordert

- einen engen Kontakt mit den Bürgern, mit allen demokratischen Kräften und Bewegungen, Parteien, politischen Vereinigungen, der Kirche, den Bürgerkomitees und Bürgerinitiativen;

- eine ausschließliche Verantwortung gegenüber dem Volk und nicht gegenüber einer Partei oder Bewegung;

- eine ständig hohe Präsenz der Schutzpolizei, Verkehrspolizei und Transportpolizei in der Öffentlichkeit;

- das Einschreiten gegen jede Verletzung von Recht und öffentlicher Ordnung;

- die Entgegennahme aller Bürgeranliegen sowie die umfassende Hilfe und Unterstützung bei deren Klärung; ...«

Das Dokument zeigt aufgelistet die Anzahl der erfassten Delikte. Es zeigt einen Anstieg bei: Diebstahlshandlungen, Raub / Erpressung, Körperverletzung, Gewaltandrohungen, Brandstiftungen und unbefugter Benutzung von Kfz.
Kriminalitätsentwicklung 1990 im Bezirk Dresden. (Auszug, Januar 1991)  © Polizeihistorische Sammlung Sachsen

»Polizei-Report«, Jahresrückblick 1990 der Polizei des Regierungsbezirkes Dresden: »Die Gesamtaufklärung ist 1990 gegenüber 1989 rückläufig gewesen, sie ging im Regierungsbezirk um 13,7 % auf 73,3 % zurück.«

Das Dokument zeigt den Entwurf »Konzeption für ein "Gesetz über die Volkspolizei in der Deutschen Demokratischen Republik"«. Auf der Seite ist zu lesen: »I. Ziel und inhaltliche Leitlinien des Gesetzes«.
Dokument von 1990.  © Polizeihistorische Sammlung Sachsen

Auszug aus einer Konzeption für ein »Gesetz über die Volkspolizei in der Deutschen Demokratischen Republik«: »Die Notwendigkeit der Gestaltung vertrauensvoller Beziehungen Volkspolizei – Bürger im Prozeß der vollständigen Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens und der staatlichen Tätigkeit erfordert ein Gesetz, das ein neuorientiertes Polizeiverständnis in der Gesellschaft erschließt und garantiert. Die allseitige Verwirklichung rechtsstaatlicher Prinzipien – insbesondere des Grundsatzes, wonach dem Bürger alles erlaubt, was nicht ausdrücklich untersagt und dem Staat nur erlaubt, was ihm rechtlich gestattet ist – muß hinsichtlich der Rolle der Volkspolizei in der Gesellschaft und ihrer konkreten Pflichten und Rechte in sorgfältig ausgestalteten, begrifflich eindeutigen und juristisch exakten Regelungen mit dem Gesetz gewährleistet werden.«

Das historische Dokument »Für den Schulungsgruppenleiter« gibt »Hinweise für die Staatspolitische Bildung*«. Unter anderem: »Es ist ein Polizeiverständnis zu entwickeln, das dem Demokratieverständnis des Volkes entspricht.«
Dokument vom 27. November 1989.  © Polizeihistorische Sammlung Sachsen

»Hinweise für die Staatspolitische Bildung*« des Ministeriums für Innere Angelegenheite »Für den Schulungsgruppenleiter« vom 27. November 1989:

»Thema: Die umfassende Demokratisierung in unserem Lande – Konsequenzen für die Tätigkeit der Organe des Ministeriums für Innere Angelegenheiten

1. Auf welche grundlegenden demokratischen Entwicklungsprozesse in der DDR müssen wir uns in der Tätigkeit der Organe des MfIA einstellen?

- Die Führungsorgane und Mitarbeiter im MfIA sind gefordert, dem heutigen Demokratieverständnis in der Gesellschaft der DDR gerecht zu werden. Es ist ein Polizeiverständnis zu entwickeln, das dem Demokratieverständnis des Volkes entspricht. Das bisherige Selbstverständnis der Polizei unseres Landes ist dem administrativ-bürokratischen System geschuldet. Es geht einher mit einer Vorstellung über den Staat, die diesen wesentlich nur als das Instrument der Machtausübung der herrschenden Klasse begriff.

- Unsere Gesellschaft braucht ein an der Politik der Erneuerung orientiertes Selbstverständnis der Polizei. Die Arbeit des MfIA muß von Demokratie und Transparenz durchdrungen sein und zugleich ist durch die Organe des MfIA ein Beitrag zur Schaffung eines sozialistischen Rechtsstaates zu leisten. Die Überwindung des bisherigen zentralistisch-administrativen Systems und eine qualitative Erneuerung des Sozialismus in der DDR sind nur möglich, wenn der Staat zu einem Rechtsstaat ausgebaut wird, der von den Grund- und Menschenrechten ausgeht, in dem das Volk der Souverän ist.

- Es geht um die tatsächliche juristische Garantie aller Grund- und Menschenrechte in ihrer Einheit und wechselseitigen Bedingtheit politischer und ziviler, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte, die auf der Grundlage von Gesetzen als subjektive Rechte ausgestaltet werden, d. h. für den Bürger auf dem Rechtswege durchsetzbar sind.

- Die Gesellschaft muß umfassend auf der Grundlage des Rechts organisiert werden. Das Gesetz muß die Priorität im System der rechtlichen Normen erhalten. Uneingeschränkt ist die Gleichheit aller Bürger vor dem Recht zu gewährleisten. Die staatliche Macht muß tatsächlich in den Händen der Volksvertretungen konzentriert werden. Das setzt voraus, Partei und Staat zu trennen.«

»Der Bericht zur Situation der Polizei schließt mit sechs Vorschlägen für die Entwicklung im Jahr 1990:
1. Erstellung einer Konzeption für die innere Sicherheit …
2. Erhöhung der Wirksamkeit der polizeilichen Arbeit durch umfassende Bildungsmaßnahmen, Ausbau der Sicherheitspartnerschaften sowie Medien- und Öffentlichkeitsarbeit
3. Steigerung der Motivation der Mitarbeiter …
4. Modernisierung von Führungs- und Einsatzmitteln, Erneuerung von Uniform und Effekten
5. Beibehaltung des Prinzips der zentralen Führung der DVP bis die Polizeihoheit in die Verantwortung der Länder übergeht sowie intensive Zusammenarbeit mit den Polizeien der Bundesrepublik Deutschland …
6. Einführung eines neuen Bildungssystems …«

Ministerrat der DDR, 2. Mai 1990

 

*zitiert nach: Rico Sommerschuh: Die Geschichte der Polizei in Sachsen 1989–1995. Die Anfänge einer rechtsstaatlichen Polizei im wiedergegründeten Freistaat Sachsen. Masterarbeit, Deutsche Hochschule der Polizei, Münster 2018

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Das Jahr beginnt mit einer Trennung. Die sächsische Polizei löst sich von »polizeifremden« Bereichen. Dies ist Teil der neuen sächsischen Polizeistruktur – erarbeitet von Fachleuten aus Bayern, Baden-Württemberg und der ehemaligen Volkspolizei im Zuge des Übergangs der Polizei in Länderhoheit. Ab März gibt es Grundseminare für alle Polizeiangehörigen. Die sächsische Polizei ist somit die erste in den neuen Bundesländern, die über eine einheitliche Grundausbildung verfügt.

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